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„Wie konntest du nur?“ – Der Fall Margrit Sprecher und der mediale Umgang mit der AfD

„Wie konntest du nur?“ – Der Fall Margrit Sprecher und der mediale Umgang mit der AfD Anfang Januar brachte die „NZZ am Sonntag“ ein Porträt der AfD-Chefin Weidel.

Sie zählt zu den renommiertesten Journalistinnen der Schweiz. In der „NZZ am Sonntag“ porträtierte sie Alice Weidel – und wurde dafür heftig kritisiert. In einem sehr persönlichen Text zieht sie Bilanz.

Zürich – Was darf, was soll Journalismus, wenn es um Politikerinnen wie Alice Weidel geht? Zwei Texte – ein einordnender Leitartikel von Chefredakteur Marcus Hebein in der „Schweizer Journalist:in“ und ein persönlicher Erfahrungsbericht von Margrit Sprecher – zeigen, wie groß die Verunsicherung im Umgang mit rechtspopulistischen Akteuren ist. Während früher die Provokationen kommentiert, gespiegelt, analysiert wurden, gilt heute oft: keine Bühne für die Falschen. Doch was bedeutet dieser Grundsatz für die journalistische Praxis – und für eine Branche, die sich selbst zunehmend Fesseln anlegt?

 

Wie konnte sie nur? Marcus Hebein über den Umgang der Medien mit Rechtsextremen einst und jetzt:

Ich kann mich noch gut daran erinnern. Mitte der 80er-Jahre begann der Aufstieg von Jörg Haider in Österreich. Haider galt als der erste und als einer der einflussreichsten Wegbereiter des Rechtspopulismus. In Leitartikeln und Kommentaren wurden seine oft schockierenden Sager und Provokationen verrissen, auf Magazincovern wurde er gleichzeitig mit nacktem Oberkörper abgebildet. Mitgemacht haben alle – auch internationale Medien wie der „Spiegel“ bis hin zur „New York Times“.

 

Die FPÖ erreichte bei Wahlen bis zu 25 Prozent, in regionalen Abstimmungen sogar noch mehr. Bis heute sehen viele Beobachter die Medien als Mitschuldige am Aufstieg Haiders im Speziellen und der Rechtsextremen im Allgemeinen. Den Populisten sei zu viel Platz eingeräumt worden.

 

Anfang Januar porträtierte Margrit Sprecher AfD-Parteichefin Alice Weidel in der „NZZ am Sonntag“. Medien hatten Weidel bis dahin ignoriert. Im Gegensatz zur noch offenen Diskussion in den 80er- und 90er-Jahren hat sich in den vergangenen Jahren im Journalismus eine im Grunde bemerkenswert unjournalistische Maxime eingeschlichen, die aber in bemerkenswerter Einhelligkeit beachtet wird: keine Bühne für die Falschen, die Gefährlichen.

 

Was nach dem Interview dann über Margrit Sprecher hereinbrach, war ein klassischer Shitstorm. Ich war erstaunt, wie unbedarft auch bekannte Kolleginnen und Kollegen einen Like bei teils unterirdisch beleidigenden Kommentaren auf Social Media setzten, wie schnell eine der renommiertesten Journalistinnen der Schweiz verdammt wurde. Im Gegensatz zu den 80ern war offensichtlich längst klar: Mit Rechtsextremen wird nicht gesprochen.

 

Margrit Sprecher hat für diese Ausgabe (der „Schweizer Journalist:in“) einen hervorragenden Text geschrieben, wie sie sich mit ihrem Porträt Feinde fürs Leben geschaffen hat. Während ich ihn gelesen habe, ist mir der Gedanke gekommen, wie denn wohl eine junge Journalistin, ohne die jahrzehntelange Erfahrung einer Margrit Sprecher, vorgehen würde, wenn sie an einem Thema Interesse hätte, das nicht einigen der mittlerweile ungeschriebenen Gesetze der Medienbranche entspricht.

 

Man kennt die Antwort: Nur wenige würden dieses Risiko wohl eingehen. Ich bezweifle, ob das unserer Branche guttut.

 

Weidel und die AfD wurden von Medien in den vergangenen Jahren ausgeschlossen. Der AfD konnte es egal sein. Die Rechtsextremen liegen bei 20 Prozent – und es werden eher noch mehr. Journalistische Brandmauer hin oder her.

 

Alle gegen Alice. Margrit Sprecher darüber, wie man sich mit einem einzigen Artikel Feinde fürs Leben schafft: 

Am meisten erstaunte mich, wie blitzschnell ich meinen Ruf als seriöse Journalistin los war. Die WOZ fand mein Alice-Weidel-Porträt „zum Kotzen“, der Tages-Anzeiger hielt es für gefährlich. In den sozialen Medien tippten einstige, auch nicht mehr taufrische Redaktionskollegen auf beginnenden Alzheimer. Wurde ein besonders übler Chat gelöscht, poppte er bei der Konkurrenz wieder auf. Wagte jemand ein Kompliment, stauchten ihn kriegerische Besserwisser zusammen. Ja, sogar gute Freunde fragten vorwurfsvoll: „Wie konntest du nur …?“

 

Ihr Frust über mein Alice-Weidel-Porträt war verständlich. Schließlich hatten sie einen Totalverriss erhofft: „Hau richtig drein!“ Doch eine Reizfigur ein weiteres Mal zu bodigen, widerstrebt jedem gesunden journalistischen Ehrgeiz. Weit mehr Befriedigung verschafft das Ringen um ihre halbwegs gerechte Beschreibung. Dazu kam mein alter Gerichtsreporterinnen-Reflex: Je größer die Entrüstung über einen Angeklagten und dessen Tat, desto größer auch mein Wille, ein Gegengewicht zu schaffen.

 

Das Wichtigste jedoch: Ein Alice-Weidel-Porträt war überfällig. Noch hatte kein einziges Medium die Frau interviewt, die seit drei Monaten AfD-Kanzlerkandidatin und Chefin der zweitgrößten Partei Deutschlands war. Niemand wusste, wie die Politikerin, die ein Fünftel aller Deutschen vertritt, als Mensch tickt. Was sie denkt, wenn ihr Halbwüchsige auf der Straße „Scheiß-Nazi“ nachrufen. Und wie die mit summa cum laude ausgezeichnete Uniabsolventin die unflätigen Sprüche ihrer Partei-Machos übersteht. Mit anderen Worten: ein journalistisches Must!

 

Das sahen viele Leserinnen und Leser aus dem linken Lager anders. Rabiat machte sie allein die Länge meines Porträts in der NZZaS vom 12. Januar 2025: drei volle Zeitungsseiten. Dazu kam der Titel, ein Weidel-Zitat: „Ich bin supersensibel und habe extrem nah am Wasser gebaut.“ Zwar ordnete die Unterzeile deutlich ein: „Politisch immer radikaler, privat betont offen.“ Auch kamen alle Weidel’schen Sünden im Text vor. Egal. Das Porträt blieb eine „Werbung für die Rattenfängerpartei“ und trieb der AfD „die Wackelwähler in Massen zu“.

 

Bestätigt sahen die Kritiker ihren Glauben an die Wirkmacht eines Zeitungsartikels und die Labilität der Leserschaft durch den AfD-Boykott der Medien. Keine Bühne für die Hasspredigerin, Demagogin und Rechtspopulistin Weidel! Wie gut die Cancel Culture funktionierte, zeigte Alice Weidels Agenda. Acht Wochen vor der Kanzlerwahl war sie leer. „Eigentlich könnte ich bis zum 23. Februar in die Skiferien gehen“, sagte sie bei unserem ersten Gespräch am 12. Dezember 2024.

 

Einen Riss bekam die journalistische Brandmauer erst am 9. Januar 2025. Über hundert Sicherheitsexperten und die gesamte deutsche Medienwelt lagen auf der Lauer, als sich Alice Weidel mit Trumps First Buddy Elon Musk auf der Plattform X austauschte. Danach ließ sich die AfD-Kanzlerkandidatin nicht mehr totschweigen, zu überwältigend das Interesse an ihrer Person. „Das Tor zur Hölle ist geöffnet“, schrieb die FAZ.

 

Tatsächlich erschien die Höllenbrut plötzlich auf jedem Kanal. Aus Angst vor Kontaktschuld setzten die Fernsehmoderatorinnen eine gequälte Miene auf und bombardierten Alice Weidel mit Suggestivfragen. Geriet sie nicht sogleich aus der Fassung, ließen sie sie kaum je ausreden. In Zeitungsartikeln wurde jede ihrer Aussagen genutzt, um sie im Folgesatz als dreiste Lüge zu entlarven.

 

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