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Nachruf auf Nadja Abd el Farrag: „Zeit“-Kolumnistin Ulrike Gastmann über ein stilles Ende und ein lautes Mediensystem

Nachruf auf Nadja Abd el Farrag: „Zeit“-Kolumnistin Ulrike Gastmann über ein stilles Ende und ein lautes Mediensystem Nadja Abd el Farrag (Foto: Brigitte Dummer/picturedesk.com)

Mit 60 Jahren ist Nadja Abd el Farrag verstorben – eine Frau, die viele nur als „Naddel“ kannten. Gastmann erinnert an ein Leben im grellen Scheinwerferlicht – und an die Verantwortung von Medien, Öffentlichkeit und Publikum.

Leipzig – Die folgenden Zeilen stammen von der „Zeit“-Kolumnistin Ulrike Gastmann. In einem sehr persönlichen und eindringlichen Text blickt sie auf das Leben und Sterben von Nadja Abd el Farrag – und auf ein Mediensystem, das jahrzehntelang wegsah, wo Empathie gefragt gewesen wäre:

 

Am vergangenen Freitag ist Nadja Abd el Farrag in einer Hamburger Klinik verstorben. Ein stilles Ende für eine Frau, deren wahres Ich wohl nur ganz wenige kannten. Vielleicht nicht einmal sie selbst. Weil ihr vielleicht in ihrem Leben niemand dazu Gelegenheit gegeben hat. Aber das weiß ich nicht sicher.


Offiziell Fakt ist:
Sie war zeitweise ein Begriff in der deutschen Boulevardlandschaft – und doch bleibt bei vielen, die sich ernsthaft mit ihrer Geschichte auseinandersetzen, der Eindruck zurück:
Hier wurde über Jahrzehnte ein liebenswerter, warmer Mensch ausgestellt, benutzt, überfordert – und schließlich fallengelassen.

 

Bekannt wurde sie in den 1990er-Jahren als Partnerin von Dieter Bohlen. Jeder Siebzehnjährige sah, dass das eine Beziehung war, die weniger aus gleichwertiger Prominenz denn aus asymmetrischer Rollenverteilung bestand. Sie – die langbeinige, exotische Schönheit, das cappuccinobraune Glamour­versprechen mit Overkneestiefeln – wurde in die grelle Öffentlichkeit katapultiert, an der Seite eines Mannes, dessen Selbst­inszenierung kaum Platz für andere ließ. Schmückendes Beiwerk mal ausgenommen. Auf der Bühne durfte Nadja – als selbst für die Öffentlichkeit seltsam herabgegradete „Naddel“ – als dekorative Background­sängerin mit vermutlich nicht unerheblichem Playback-Anteil mitwirken, im Privaten erfüllte sie die ultraklassische Rolle der Gefährtin: bodenständig, fürsorglich, pantoffel­bereitstellend und kartoffel­schälend. Und natürlich stets im Schatten des dominanten Partners.

Nach dem Ende dieser Verbindung stand Nadja Abd el Farrag mit 37 Jahren allein da – in mehrfacher Hinsicht. Ohne Schutz, ohne Struktur, ohne professionelle Begleitung rutschte sie in eine Medien­realität, die für niemanden gebaut ist, der verletzlich oder auf der Suche ist.


Die frühen 2000er waren geprägt vom Aufstieg der sogenannten „Reality-Unterhaltung“, in der persönliche Grenzen kein Hindernis, sondern vielmehr Teil des Verkaufs­konzepts waren. Abd el Farrag wurde zur Projektionsfläche: für Voyeurismus, Häme, vermeintliche Anteilnahme und zuletzt fast schon Mitleid.


Sie ließ sich filmen, ausfragen, betrunken zeigen, öffentlich bewerten. Sie wurde zum Objekt – in Formaten, in denen man sich die menschliche Not zur Unterhaltung zurecht­schnitt. Dass sie psychisch und gesundheitlich schwer angeschlagen war, war offenkundig. Und doch wurde sie immer wieder zurück auf die Bildschirme gebracht – nicht als Person, sondern als Fall.

 

Eine Medienfigur, der man beim Entgleiten zusehen konnte.


Der Tod von Nadja Abd el Farrag ist kein rein privates Ereignis. Er erinnert uns an die Verantwortung, die Öffentlichkeit, Medien und Zuschauer tragen. An die Notwendigkeit, Menschen nicht nur in ihrer Rolle als Celebrity zu sehen, sondern als verletzliche Individuen mit Biografie, Brüchen und Würde.


Nadja Abd el Farrags Tod ist der leise Schlussakkord eines Lebens, das über lange Strecken nicht genug Schutz fand – vor den falschen Versprechungen, vor den schnellen Urteilen, vor der Kälte eines Systems, das für Menschen wie sie keine zweite Chance vorgesehen hat.

 

Es ist eine Frau mit 60 Jahren verstorben, für die sich vielleicht niemand genügend Zeit genommen hat, um zu entdecken, wer dieser irgendwie arglose Mensch wirklich war.


Viele mögen das Thema als banal abtun, als zynische – sich für ultra-originell oder gar intellektuell haltende – Langweiler-Frage à la: „Wer ist Naddel?“ Ich sage: Wenn ihr das wisst und doch diese Frage stellt oder das vielleicht wirklich nicht wisst und keinen Plan habt, wie ihr euch dieses Wissen draufschafft, um menschlich zu agieren: Dann seid genau ihr das Problem!


Am 9. Mai 2025 ist in Hamburg eine 60-jährige Frau an just diesem ignoranten Zynismus verstorben.


Und irgendwie geht mich das nichts an. Und doch tut es mir weh.

 

Zur Autorin:

Ulrike Gastmann ist unter anderem „Zeit“-Kolumnistin: Jede Woche beschreibt sie dort die kleinen Geschichten des Alltags und die großen Gefühle, die dahinterstecken. Gastmann wuchs behütet in einer thüringischen Kleinstadt auf – zwischen Konfirmandenunterricht, Pionierhalstuch und der Stadtbibliothek, wo ihre große Liebe begann: die Sprache. Ein Studium der Anglistik, Italianistik und Germanistik in Leipzig folgte, dann eine bunte Reise durch verschiedene Berufe – von der Schulwelt über den Verlag bis zur wissenschaftlichen Mitarbeiterin an einer Klinik für Psychiatrie. Geistig lebt sie meist in Italien, physisch in Leipzig – wann immer der Alltag dies erfordert. Neben ihrer Arbeit als Autorin und Gymnasiallehrerin jongliert sie mit dem Leben als Mutter eines bald erwachsenen Sohnes und mit satirischen Bühnenauftritten. Im September erschien ihr jüngstes Buch „99 Lessons for life“ im Berliner Kanon-Verlag.