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„Bild“-Chefin Koch: „Guter Boulevard ist wild und manchmal irre“

„Bild“-Chefin Koch: „Guter Boulevard ist wild und manchmal irre“ Tanit Koch. Foto: JohannesWinter

Nach 13 Männern ist sie die erste Frau an der Spitze der „Bild“: Tanit Koch übernahm am 1. Januar den Chefposten von Kai Diekmann. Im dpa-Interview erläutert sie nach 100 Tagen im Amt erstmals ihre Pläne für Deutschlands größte Zeitung.

Berlin (dpa) − Seit 100 Tagen steht Tanit Koch als erste Frau an der Spitze der „Bild“, der immer noch größten Tageszeitung Europas. Die Berufung der 38 Jahre alten Juristin und Politikwissenschaftlerin hatte viele Beobachter überrascht. In ihrem ersten Interview weist sie Vorwürfe zurück, „Bild“ betreibe unseriösen, aggressiven Journalismus und hebt gleichzeitig die Kampagnenfähigkeit des Blattes hervor.

 

Der Boulevardjournalismus, besonders auch die „Bild“-Zeitung, hat früher davon gelebt, Tabus zu brechen, härter ran zu gehen. Heute gehen viele Seiten und Nutzer im Internet so hart ran wie niemand sonst. Wie reagieren Sie darauf als neue Chefredakteurin von „Bild“, einem Printmedium mit stark fallender Auflage?

Zuerst einmal, indem ich Ihrer Analyse widerspreche. Wir haben weiterhin eine höhere Auflage als alle großen deutschen Tageszeitungen zusammen. Wir erreichen allein mit der Zeitung gut elf Millionen Leser täglich. „Bild“ ist kein flüchtiges Medium, unsere Schlagzeile bleibt und hat die Kraft von Europas größter Tageszeitung. Und wir sind kampagnenfähig.

 

Was bedeutet Kampagnenfähigkeit?

Debatten, die „Bild“ anstößt, beschäftigen die Menschen, sind Gesprächsthema, entfalten Wirkung − auch Druck.

Im Springer-Verlag wird betont, Print und Digital arbeiteten zusammen, sie sind aber organisatorisch getrennt in „Bild“ und Bild.de mit Chefredakteur Julian Reichelt. Wie geht das zusammen?

Wir haben in den vergangenen zwei Jahren unsere Strukturen und Abläufe aufgebrochen und dann neu zusammengesetzt. Resultat: Die Redaktion ist vereint. Aber beide Bereiche − Print und Digital − haben in der Komposition einen Anspruch auf 100-prozentige Aufmerksamkeit. Deshalb ist Julian Reichelt Chefredakteur von Bild.de, deshalb verantworte ich die Zeitung. Um gemeinsam das Beste für die Marke „Bild“ herauszuholen. Wir kennen die Bedürfnisse der jeweils anderen Plattform. Natürlich lassen sich Nachrichten heute nicht mehr halten, sondern müssen online publiziert werden − viele andere Stoffe, die wir exklusiv haben, können wir hingegen in der Zeitung inszenieren. Mir ihrer ganzen visuellen Stärke, ihrer Präsenz, ihrer Kompaktheit. Eine Seite „Bild“ hat eine ganz andere Wirkung als das Display eines Smartphones.

 

Was ist heute guter Boulevard?

Guter Boulevard ist guter Journalismus, anders präsentiert. Wir sind laut, wir sind angstfrei − und wir haben kein Problem, uns bei Recherchen die Hände schmutzig zu machen, um hinter die Fassade zu schauen. Wir gehen da hin, wo andere oft nicht hingehen. Guter Boulevard ist Klarheit im Denken, in der Sprache, in der Haltung. Guter Boulevard ist wild und manchmal einfach irre.

 

Und was ist schlechter Boulevard? Ein ehemaliger „Bild“-Mitarbeiter hat das kürzlich in einem Facebook-Post so definiert: Türen eintreten, Witwenschütteln, Gesetze brechen...

Ich glaube, schlechter Boulevard ist vor allem das plumpe „Wir hier unten, die da oben“, seine Leser nicht ernst zu nehmen und zu glauben, dass man Menschen etwas vormachen kann. Den Begriff Witwenschütteln mochte ich noch nie − er wertet klassische journalistische Arbeit ab. Es ist Recherche bei Betroffenen, und Recherche ist Grundlage von gutem Journalismus.

 

Muss man dafür Hinterbliebene direkt nach einem Unglück oder einer Gewalttat aufsuchen?

In medienethischen Diskussionen wird immer wieder Voyeurismus und Sensationslust angeprangert. Was meist unerwähnt bleibt: Es gibt das ganz berechtigte, menschliche Bedürfnis, Anteil am Schicksal anderer zu nehmen. Völlig klar: Wer in seiner Trauer in Ruhe gelassen werden möchte, hat das Recht dazu. Viele aber wollen in ihrem Leid gehört werden, es mit anderen teilen. Oft treffen wir auf Menschen, die ein Bedürfnis haben, zu sprechen. Oder anzuklagen. Und an die geliebten Angehörigen zu erinnern, die sie verloren haben. Wir gehen deshalb so intensiv auf die Betroffenen ein, weil Menschen sich mit Opfern und Angehörigen identifizieren. Diese Empathie hält eine Gesellschaft zusammen. Es sind eben nicht nur gemeinsame Glücksmomente wie der WM-Sieg, sondern auch die gemeinsame Trauer. Medien vermitteln diesen Gemeinsinn, das Mitgefühl. Es ist oft das einzig Positive, was aus tragischen Ereignissen erwächst.

 

Mit tragischen Geschichten von Leid und Tod verkaufen Sie aber auch mehr Zeitungen, oder?

Wenn Sie auf „Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“ anspielen − das greift zu kurz. Nicht schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, sondern besondere Nachrichten. Es ist das Ungewöhnliche, das die Aufmerksamkeit steigert. Tragische Ereignisse, aber ebenso Helden-Geschichten und Wunder. Oder Ufos, die wir leider schon länger nicht mehr im Blatt hatten. Im Übrigen gelten die zehn Gebote von Billy Wilder: 1. Du sollst nicht langweilen. 2. Du sollst nicht langweilen. 3. Du sollst nicht langweilen...

 

Gibt es eine Schlagzeile aus Ihren ersten 100 Tagen an der „Bild“-Spitze, die Sie schon bereuen?

Ich könnte mir vorstellen, dass Sie eine im Sinn haben. Die bereue ich nicht.

 

Welche denn...?

Ich war überrascht, wie viel Kritik zu der Volker-Beck-Schlagzeile „Grüner mit Hitler-Droge erwischt“ kam − eine klassische Boulevard-Schlagzeile. Wir hatten die Story exklusiv, auf Bild.de mit der nachrichtlichen Zeile „Volker Beck mit Crystal Meth erwischt“. Die Droge besteht aus demselben Methamphetamin, das unter Hitler Wehrmachts-Soldaten verschrieben wurde. Die „Frankfurter Allgemeine“ nannte es „Nazi-Speed“. Da hat niemand den Vorwurf erhoben, sie wolle Beck in die Nazi-Ecke rücken. Uns gegenüber schon. Dabei haben wir eher zur Allgemeinbildung beigetragen. Die Diskussion ist aber ein gutes Beispiel für deutsche Debattenunkultur: Da wird ein Bundestagsabgeordneter vom Drogen-Dealer kommend mit einer illegalen Substanz erwischt. Er unterstützt die organisierte Kriminalität, aber Twitter-Deutschland und Medien-Journalisten erregen sich wegen der „Bild“-Schlagzeile. Anstatt sich zu empören, weil ein Spitzenpolitiker mit dem schönen Satz „Ich war immer für eine liberale Drogenpolitik“ abtaucht und sich für vier Wochen krankschreiben lässt. 

 

Sind Sie enttäuscht, weil „Bild“ da immer noch in die historische konservativ-rechte Ecke gestellt wird − trotz Ihrer Pro-Flüchtlings-Kampagne „Refugees welcome − Wir helfen“?

Die wirkliche rechte Ecke stellt uns doch zurzeit in die linke. Wir sind weder rechts noch links, sondern in der Regel: vorn. Zu unserer „Wir helfen“-Kampagne: Dieses Land hat in beeindruckender Weise gezeigt, was es zu leisten imstande ist, effizient und empathisch. Stellen Sie sich mal vor, wir hätten − wie einige britische Zeitungen − Stimmung gegen Flüchtlinge gemacht und dann hätten die Unterkünfte gebrannt. Für die, die es sich gern einfach machen, wäre dann natürlich „Bild“ schuld gewesen. Erschreckenderweise brennen tatsächlich Flüchtlingsheime, aber selbst „Bild“-Hasser können nicht allen Ernstes behaupten, dass es etwas mit uns zu tun hat. Uns ging es immer darum, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. Also ein klares Bekenntnis zur Hilfsbereitschaft, ohne die vielfältigen Probleme zu beschönigen, die der Zustrom von Hunderttausenden Menschen aus einem völlig anderen Kulturkreis mit sich bringt.

 

Sie haben vorhin gesagt, die Marke „Bild“ sei kampagnenfähig. Wäre es an der Zeit für „Bild“, eine Kampagne gegen die AfD aufzulegen, oder verärgern Sie dann zu viele Ihrer Leser?

Eine Kampagne gegen die AfD würde sie wichtiger machen, als sie ist. Die AfD ist eine Defizitpartei, die sich im letzten Herbst erfolgreich eines einzigen Themas bemächtigt hat und davon profitiert, dass das Gros der etablierten Parteien in die Mitte gerutscht ist. Die AfD hat keine Antworten auf die Probleme. Die Menschen würden es uns allerdings verübeln, wenn wir versuchten, sie zu bevormunden. Wir haben als Journalisten keinen Erziehungsauftrag. Wir machen unsere Leser nicht zu besseren Menschen − ebenso wenig wie „Spiegel“ oder „taz“ das tun. Wir machen sie zu besser informierten Menschen.

 

Haben sich die deutschen Medien der Political Correctness unterworfen? Gibt es sozusagen eine bewusste Zurückhaltung, um nicht mögliche Ressentiments in der Bevölkerung zu schüren?

Natürlich haben viele Journalisten die Sorge − fleißig sekundiert vom Presserat -, Ausländerfeindlichkeit zu schüren. Der Pressekodex ist bei Straftaten mit Ausländerbezug ein Verunsicherungsinstrument für die Redaktionen. Der Punkt ist doch: Wer alle Araber für kriminell hält, wenn er eine Meldung über einen arabischen Straftäter liest, dem ist sowieso nicht zu helfen. Jede Gesellschaft hat leider ihren Bodensatz an Rassisten. Die breite Mehrheit gehört nicht dazu und will − zu Recht − umfassend informiert werden. Nur so werden Probleme öffentlich. Doch als „Bild“ vor ein paar Jahren die Schlagzeile „Die bittere Wahrheit über Ausländer und Hartz IV“ brachte, hagelte es in der veröffentlichten Meinung Kritik. Nicht etwa daran, dass 90 Prozent der Libanesen in Deutschland auf staatliche Unterstützung angewiesen waren. Sondern daran, dass wir darüber berichtet haben. Bloß: Keine Vorurteile schüren zu wollen, befördert oft das Gegenteil. Menschen merken, wenn ihnen etwas vorenthalten wird und werden misstrauisch − gegenüber der Politik, gegenüber den Medien. Das schadet unserer Glaubwürdigkeit.

 

Die Kampagne „Stop Bild Sexism“ hat Sie als erste Frau nach 13 Männern an der Redaktionsspitze aufgefordert, mit Sexismus in der „Bild“ aufzuräumen. Dieser Appell ging an Ihnen vorbei, oder?

Nein, im Gegenteil, ich habe herzlich gelacht. Da steht über uns dieser Satz: „Frauen wird − wenn denn über sie berichtet wird − jegliche Expertise abgesprochen“. Ob Frau Merkel das auch so sieht oder Frau von der Leyen, Angélique Kerber oder Martina Gedeck? Wissen Sie, ich gönne jedem seine Selbsthilfe-Gruppe, aber deshalb muss ich sie nicht immer ernst nehmen. Interessant könnte es werden, wenn Aktivistinnen mal die Uffizien stürmten, um Botticelli für seine schlimmen Nacktbilder zu geißeln. Aber Kritik am „Bild“-Girl? Wie originell...

 

Wenn Sie jetzt auf ihre ersten 100 Tage als Chefredakteurin schauen: Was hat sie geärgert?

Gemessen an dem, was mich gefreut hat − wenig. Über mich selber habe ich mich einmal ziemlich geärgert. Der Verlag verkündet, den ersten Axel-Springer-Award an Facebook-Gründer Marc Zuckerberg zu verleihen. Das lief dann auch über dpa, doch es gab ein Medium, das es am nächsten Tag − exklusiv − unterschlagen hat: „Bild“. Ist einfach durchgerutscht. Auf Alleinstellungsmerkmale dieser Art verzichte ich künftig gern. 

 

Ihr Vorgänger Kai Diekmann, der jetzt als „Bild“-Herausgeber agiert, hat sich stark politisch profiliert, mit großen Interviews und einem innigen Verhältnis zu Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl. Die politische Journalistin Tanit Koch ist den „Bild“-Lesern bis auf einige Kommentare noch verborgen geblieben. Wird sich das ändern?

 Verborgen nur, wenn sie in den letzten drei Monaten die Zeitung nicht gelesen haben. Mein Name muss nicht über einer Geschichte stehen, um ihr meine Handschrift zu geben. Als Chefredakteurin treibe ich vor allem Themen voran, entscheide über die Richtung, die Gewichtung und trage die Verantwortung − auch dafür, und das sehr gern, dass wir im ersten Quartal dieses Jahres meistzitiertes Medium sind.

 

Was könnte man über Sie persönlich in der „Bild“ lesen?
Sagen wir mal so: Für einen „Bild“-Aufmacher reicht es nicht.

 

Fällt Ihnen denn eine gute „Bild“-Schlagzeile über sich selbst ein?
Auf die Zeile „Koch wieder Kellner“ könnte ich verzichten. „Koch brät in der Sonne“ wäre in den nächsten Monaten hingegen mal fällig.

 

ZUR PERSON: Die in Konstanz geborene und in Bonn aufgewachsene Tanit Koch (38) ist ein Springer-Eigengewächs. Nach dem Studium − Jura und Politikwissenschaft − absolvierte sie 2005/2006 dort ein Volontariat. Danach war sie Büroleiterin des damaligen „Bild“-Chefredakteurs Kai Diekmann und arbeitete in der Chefredaktion der Welt-Gruppe, bevor sie Textchefin bei „Bild“ wurde. Als Leiterin der Hamburg-Ausgabe der „Bild“ wurde Koch 2011 auch Mitglied der Chefredaktion. 2013 übernahm sie in der Funktion einer stellvertretenden Chefredakteurin die Leitung des Unterhaltungsressorts. Am 1. Januar 2016 wurde Koch die erste Chefredakteurin des Boulevardblattes, das seit der Gründung im Jahr 1952 insgesamt 13 männliche Chefs hatte.