Vermischtes
Newsroom

Automatische Kritik: Was macht eine gute Reportage aus?

Gute Reportagen erkennt jeder Leser, schlechte Stücke auch. Aber was sind die Kriterien für einen exzellenten Text? Einen Versuch, Reportagekritik zu automatisieren, unternimmt das Reporter-Forum. Eine Liste, an der Journalisten und Interessierte mitarbeiten können, soll helfen, Texte zu unterscheiden - am Ende scheinbar fast automatisch.

Berlin - Natürlich sind es nur Hinweise, die derzeit gesammelt werden, ein Experiment. Die Argumente erscheinen aber schon jetzt häufig schlüssig - wer empfindet es zum Beispiel nicht als Ärgernis, wenn anstelle des Wortes "sagen" der Autor auf einmal das Synonym "grinsen" verwendet? NEWSROOM stellt einige Plus- und viele Minuspunkte vor.

Was zu Minuspunkten bei der Beurteilung einer Reportage führt

- Autor sagt "wir" oder "man", meint aber "ich"

- Regen, auch Tropfen, die ständig irgendwo runterrinnen, der Melancholie wegen

- Personen-Synonyme ("der Leimener", "der Kerpener", "Die Hannoveranerin")

- Personen ohne Artikel: "sagt Vater Raoul zu Tochter Sandy"

- Autor nimmt an einer Veranstaltung einer ihm fremden Bevölkerungs- oder Interessengruppe teil, fühlt sich nach einer halben Stunde des Herumstehens noch nicht integriert und stellt fest, dass man dort wohl "am liebsten unter sich" bleibt

- Erzählgerümpel. Nur was wichtig ist, sollte vorkommen! Unnötige Details lenken ab und verwirren. Die Kunst besteht im Weglassen. Der Reporter muss Fett absaugen können.

Was bei Auslandsreportagen besonders negativ auffällt

- Im Ausland ist alles genau so, wie man es sich schon vor der Reportagenlektüre vorgestellt hat

- Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein.

- Dies ist das Land/die Stadt der Kontraste (arm und reich, neu und alt)

- Einheimische sind arm, aber gastfreundlich

- Essen ist einfach, aber schmackhaft

- Restaurants abseits der Tourismusschwerpunkte preiswert, gut und freundlich

- Jeder grüßt jeden, weil jeder jeden kennt.

Was für Pluspunkte sorgt

- Geduldiges Erzählen. Der Geschichte am Anfang Raum geben, sich zu entwickeln. Nicht gleich springen.

- Gut gewählter, überraschender Einsteig. Schreibe die fünf naheliegendsten Einsteige - und streiche weg, was dir nicht gefällt

- Essayistische, selbstreflexive Antigeschichte.

- Verstörende Zitate. Ein Zitat ist gut, wenn es die Person charakterisiert, es die Geschichte auf den Punkt bringt oder wenn es uns verstört

Mitmachen bei Reportagekritik

Noch befindet sich die Liste der Plus- und Minuspunkte nicht in der endgültigen Form. Wer mithelfen möchte, die Liste zu vervollständigen, kann sich direkt am Schreibblock vom Reporter-Forum beteiligen und seine Erfahrungen teilen.

Hintergrund

Das journalistische Erzählen möchte das Reporter-Forum fördern. Hinter dem Verein stecken zahlreiche profilierte deutsche Journalisten, unter anderem Ariel Hauptmeier ("Geo"), Cordt Schnibben ("Der Spiegel") und Stephan Lebert ("Die Zeit"). Der Verein vergibt seit 2009 jährlich den "Deutschen Reporterpreis". Zu den bisherigen Preisträgern gehören unter anderem Ariane Bemmer ("Der Tagesspiegel"), Volker ter Haseborg ("Hamburger Abendblatt") oder Wolfgang Uchatius ("Die Zeit", 2011 zum zweiten Mal ausgezeichnet).

In der kommenden Woche treffen sich einige Journalisten auf Einladung vom Reporter-Forum in Hamburg. Der Titel des Reportertreffens in diesem Jahr lautet "Die Zukunft des Journalismus - teuer auf Papier, umsonst im Netz?". Zugesagt haben unter anderem die Publizistin Miriam Meckel, Ismene Poulakos ("Kölner Stadt-Anzeiger"), Matthias Müller von Blumencron ("Spiegel Online"), Amy O'Leary ("New York Times") oder Jon Lee Anderson ("New Yorker").

Bülend Ürük