Pressefreiheit
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Historiker Wehler: "Spiegel"-Affäre hat vierte Staatsgewalt etabliert

Die Medien werden häufig als vierte Staatsgewalt beschrieben. In Deutschland hat die "Spiegel"-Affäre maßgeblich dazu beigetragen, meint der Geschichtsprofessor Hans-Ulrich Wehler.

Hamburg - Nach Ansicht des Bielefelder Historikers Hans-Ulrich Wehler hat die "Spiegel"-Affäre entscheidend zur Etablierung einer vierten Staatsgewalt in Deutschland beigetragen. "Neben Exekutive, Judikative und Legislative gibt es jetzt eben die kritische Öffentlichkeit", sagte Wehler in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur anlässlich des 50. Jahrestags der Affäre. Durch den Polit-Skandal im Herbst 1962 sei die Bundesrepublik zu einem demokratisch und liberal wachen Land geworden.

Zwei Dinge sind für Wehler dabei wesentlich: Zum einen, dass Professoren und Studenten erstmals gemeinsam auf die Straßen gingen, um gegen die Verhaftung der "Spiegel"-Redakteure zu demonstrieren. Zum anderen, dass andere Presseorgane dem "Spiegel" beistanden und dessen Mitarbeitern ihre Räume zur Verfügung stellten. "Der machtvolle Trend hin zur vierten Staatsgewalt, ohne die wir heute nicht mehr leben wollen", sei der bleibende Erfolg der "Spiegel"-Affäre, so der Experte.

Laut Wehler bedeutete der Polit-Thriller, an dessen Ende die Vorwürfe des Landesverrats gegen den "Spiegel" fallengelassen wurden, für das Magazin eine ungeheure Aufwertung. Herausgeber Rudolf Augstein, der für die Meinungsfreiheit monatelang im Gefängnis gesessen hatte, habe danach die Aura und den Nimbus des Helden umgeben. "Für den "Spiegel" war das ein beispielloser Erfolg", resümierte Wehler. Augstein sei von jenem Zeitpunkt an so etwas wie ein "ungekrönter König der deutschen Medien", der Mann mit der entscheidenden politischen Medienmacht in Deutschland gewesen.

Außerdem habe das Blatt nach dem erfolgreich ausgetragenen Konflikt mit der Staatsgewalt mit einem anderen Selbstbewusstsein geschrieben. "Es war ein sattes Selbstbewusstsein: Ihr habt uns nicht kleingekriegt und wir klinken uns wieder mit neuen Problemen ein", schilderte Wehler. Das Nachrichtenmagazin aus Hamburg profitiere noch heute, 50 Jahre danach, von der Affäre. "Ich glaube, da gibt es so eine Art Bonuseffekt. Von dem zehrt der "Spiegel"", so die Einschätzung des 81-jährigen "Spiegel"-Lesers der ersten Stunde.

Wehler kann sich nicht vorstellen, dass es heute zu einer vergleichbaren Affäre kommen könnte. Weder gebe es in der Politik aktuell Alphafiguren wie Augsteins damaligen Widersacher Franz Josef Strauß. Noch sehe er in der Medienwelt Gegenfiguren, die sich in einer großen Konfliktsituation aufschwingen könnten. "Insofern ist nicht zu erwarten, dass sich die Konstellation von 1962 wiederholt", bilanzierte Wehler. "So etwas gibt es nicht so schnell wieder."

Benjamin Haller