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Habe ich das Kind mit dir gezeugt? – 78 Journalistinnen beklagen Sexismus und Einschüchterungen bei Tamedia

Habe ich das Kind mit dir gezeugt? – 78 Journalistinnen beklagen Sexismus und Einschüchterungen bei Tamedia Tamedia-Inlands-Redakteurin Claudia Blumer

In der Schweiz sorgt ein Brief für Aufsehen, in dem sich Journalistinnen gegen Einschüchterungen und Sexismus beim Medienkonzern wehren. Inzwischen gibt es auch ein Solidaritätsschreiben von Männern aus der Tamedia-Redaktion.

Zürich – Der Brief der Tamedia-Journalistinnen war nach einem Bericht des SRF als internes Dokument an Geschäftsleitung und Chefredaktion gedacht. Die Netzaktivistin Jolanda Spiess-Hegglin hat ihn am Wochenende auf Twitter veröffentlicht. Den Schritt begründete sie in SWR2 damit, dass die sozialen Medien ein wirksames Mittel seien gegen die herrschende Kultur der „Omertà“.

 

In dem Schreiben beklagen 78 Journalistinnen der Tamedia-Unternehmensgruppe strukturelle Missstände: „Frauen werden ausgebremst, zurechtgewiesen oder eingeschüchtert. Sie werden in Sitzungen abgeklemmt, kommen weniger zu Wort, ihre Vorschläge werden nicht ernst genommen oder lächerlich gemacht. Frauen werden seltener gefördert und oft schlechter entlohnt.“

 

Es herrsche eine von Männern geprägte Betriebskultur, die sich durch die Pandemie, Homeoffice und Videocalls nochmals spürbar verschlechtert habe. Männer seien auf dem Redaktionen klar in der Überzahl und besetzten fast alle Schlüsselpositionen: Sie geben vor, was angesehen und geschätzt ist. Frauen seien oft Gegenstand, selten aber Teil der Diskussion. Auch würden kaum Frauen für leitenden Funktionen berücksichtigt, heißt in dem Brief der Tamedia-Journalistinnen. Eine Reihe von Kolleginnen habe in den vergangenen Jahren aus diesen Gründen das Unternehmen verlassen, so dass die Zahl von Frauen weiter abnehme.

 

Im Anhang des Schreibens werden seitenweise konkrete Beispiele dokumentiert, etwa sexistische Äußerungen und Beleidigungen. So fallen demnach Sätze wie: „Du bist hübsch. Du bringst es sicher noch zu was.“ Außerdem wird ein Mann zitiert, der sich äußerte, als ein Kind im Homeoffice der Kollegin zu hören war: „Bei Dir im Hintergrund schreit ein Kind, habe ich das mit Dir gezeugt?“

 

„Wir sind nicht bereit, diesen Zustand länger hinzunehmen“, betonen die Journalistinnen und stellen konkrete Forderungen. Ganz oben auf der Liste stehen Anstand und Respekt. Dazu eine anonymisierte Umfrage zu Arbeitsklima, mehr Frauen in Führungspositionen, standardisierte Verfahren bei Fällen von Mobbing, sexueller Belästigung und Hassnachrichten sowie Vertrauenspersonen für Betroffene. Als Frist nennen die Unterzeichnenden den 1. Mai – bis dann solle es konkrete Vorschläge geben.

 

Die Tamedia-Inlands-Redakteurin Claudia Blumer, die mit unterschrieben hat, erklärte im Interview mit dem SRF, für sie sei das Wichtigste, dass der Frauenantei in den Ressorts und in den Führungsgremien erhöht werde. „Das würde viele Probleme lösen, die in dem Brief angesprochen werden: Das Klima, den Umgang miteinander, vielleicht auch den Sexismus“, so Blumer.

 

Zudem sagte Blumer, dass in dem Brief viel zusammen komme. Es sei nicht in jedem Fall Sexismus. Es gebe auch Männer, denen das Klima nicht behage. Und auch zur Lohnungleichheit äußert sich Blumer im SRF: „Natürlich betrifft das vor allem Frauen, dass sie weniger verdienen als ihre Kollegen. Aber es gibt auch Männer, die weniger verdienen als ihre Kollegen. Diese Probleme betreffen mitunter auch Männer.“

 

Inzwischen gibt es auch ein Solidaritätsschreiben von Männern aus der Tamedia-Redaktion. „Wir verurteilen das geschilderte diskriminierende Klima in den Redaktionen“, heißt es in dem Schreiben, das CH Media vorliegt. Dass für einige Frauen als Ausweg nur noch die Kündigung geblieben sei, finde man unhaltbar: „Wir sind der Meinung, dass in einem fortschrittlichen Medien-Unternehmen, das sich zur Diversität bekennt, solches Verhalten keinen Platz hat.“

 

Offenbar sieht auch die Chefredaktion einen Handlungsbedarf. Tamedia-Chefredakteur Arthur Rutishauser erklärte gegenüber persoenlich.com: „Wir sind uns bewusst, dass die bisherigen Maßnahmen zur Steigerung des Frauenanteils in den Redaktionen und insbesondere in Führungspositionen nicht ausreichen und es Zeit für eine verbindliche Strategie ist.“

 

Hintergrund: Die Tamedia AG ist die größte private Mediengruppe der Schweiz, zu der zahlreiche Blätter wie die „Basler Zeitung“, „Der Bund“ und der „Tages-Anzeiger“ gehören. Sie ist ein Tochterunternehmen der TX Group, die auch das Gratisblatt 20 minutes publiziert.